/// Rubrik: Stadtleben

Die Mutter aller Dinge

Kreuzlingen – Einen Vortrag von einem buddhistischen Gelehrten beizuwohnen gleicht eher einem philosophischen Diskurs als einer religiösen Predigt.

Khenchen Nyima Gyaltsen hält seinen Vortrag auf Tibetisch.(Bild: ek)

Khenchen Nyima Gyaltsen hält seinen Vortrag auf Tibetisch. (Bild: ek)

Ich verstehe nur Ching Chang Chong. Wortwörtlich. Die Anfangsgebete werden gerade gesprochen, ein tibetischer Singsang, bei dem ich versuche mitzuhalten: «DSCHANG TSCH’UB SEM TSCH’OG RIN PO TSCH’E/ MA KJE PA NAM KJE GJUR TSCHIG» dröhnt es durch den kleinen Raum im Buddhistischen Zentrum an der Nationalstrasse. Vor allem einen langen Atem braucht man dazu, denn der aus Indien angereiste Nyima Gyaltsen gibt die Textstelle und den Takt an.

Es hört sich an, als ob der Khenchen (ein hoher religiöser Titel inheralb des tibetischen Buddhismus) in seinem ganzen Leben nichts anderes gemacht hätte. Hat er auch nicht: Bereits mit zwölf Jahren trat er in das Kloster Lho Lungkar in Tibet ein. 2013 wurde er als Khenpo Thripa inthronisiert, dem alle Klöster im Exil unterstehen. Zum Glück werden die Gebete noch in Deutsch rezitiert, ich hätte sonst nicht gewusst, für was ich gerade gebetet habe: «Kostbares Streben nach Erleuchtung zum Wohle aller Lebewesen – möge es entstehen, wo es noch nicht entstanden ist.»

Die Erleuchtung kommt langsam
Ziemlich aufregend. Die Teilnehmer des Seminars sitzen im Schneidersitz vor mir, ich stelle mir vor, wie gleich die Meditationen beginnen und jemand urplötzlich die Erleuchtung findet und anfängt davonzuschweben. Doch nichts davon geschieht. Khenchen Gyaltsen fängt seinen Vortrag an zum Thema Umwandlung von Negativität und Aggressionen durch Mitgefühl. Der Übersetzer diskutiert mit ihm, die Teilnehmer sitzen alle geduldig da.

Dann kommt die Ernüchterung: Das Bodhichitta, also das Streben nach Erleuchtung, sei zwar eines der Kernpunkte im Buddhismus, doch diese zu erreichen dauere ewig. Ein wesentliches Werkzeug, Bodhichitta zu verwirklichen, sei es Mitgefühl für alle anderen Lebewesen zu entwickeln. Am besten stelle man alles auf die Stufe der eigenen Mutter. Gar nicht so schwer, wenn man an die Reinkarnation glaubt, wodurch im früheren Leben jedes Lebewesen einmal meine Mutter gewesen sein kann.

Einer Kursteilnehmerin scheint dieses Mitgefühl bzw. Toleranz nicht immer leicht zu fallen. Sie erzählt, wie die Pöstlerin heute zweimal nacheinander vor ihrer Ausfahrt geparkt hat. Da sei es ihr schon schwer gefallen, noch Verständnis für diese zu empfinden. Zum Wohle meines nächsten Lebens nehme ich mir vor, keine Verkehrssünden mehr zu begehen.

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