Kleine Oasen der Ruhe und Hoffnung
Kreuzlingen – Seit über drei Jahren bietet Elisabeth Hofmann zusammen mit zwei Kolleginnen jeden Donnerstag eine Tongruppe für die Flüchtlingskinder an.
Das Empfangs- und Verfahrenszentrum Kreuzlingen (EVZ) im Quartier Emmishofen ist ein grauer Betonklotz mit etwas Glas dazwischen. Das Gebäude an der Döbelistrasse erinnert an ein Gefängnis, Besucher werden zunächst durch Sicherheitskontrollen geschleust. Drinnen wirkt es dann eher wie auf dem Flughafen. Überall sitzen und stehen Menschen unterschiedlicher Herkunft, sie warten im Mensa-ähnlichen Aufenthaltsraum, schlendern über den Hof, der nicht nur bei bei schlechtem Wetter leergefegt und trostlos aussehen kann. Dazwischen Uniformierte.
Rund 300 Asylsuchende sind dort ständig beherbergt, sie stellen hier ihre Asylanträge und durchlaufen die ersten Stufen des Asylverfahrens. Die meisten kommen aus Kriegsgebieten, haben ihre Heimat verloren. Wer hier empfangen wird, hat einen langen, gefährlichen Weg hinter sich, der noch nicht zu Ende ist. Für die Männer, Frauen und Kinder ist das EVZ ein kurzfristiger Übergangsort, mehr als drei Monate darf eigentlich keiner hier bleiben. Nun kann sich jeder vorstellen, wie belastend das Warten und das unumgängliche Nichtstun für die Psyche sein muss, ebenso das Bangen um einen positiven Bescheid. Hinzu kommen die beengten Raumverhältnisse.
Beschäftigungsprogramme helfen gegen Hüttenkoller
Die Asylsuchenden im EVZ werden von der Asylorganisation Zürich (AOZ) betreut. Sie bietet verschiedene Beschäftigungsprogramme an. Unter anderem gehen Asylsuchende zwei Mal die Woche die Innenstadt reinigen, aber auch für Kinder ist jeden Tag etwas dabei. Dabei wird der AOZ von Privaten unter die Arme gegriffen: Seit mehr als drei Jahren kommt die Psychologin Elisabeth Hofmann aus eigener Initiative heraus in das EVZ, um zusammen mit wechselnden Mitstreiterinnen und unterstützt von der Empfangsstelle eine Tongruppe für Kinder durchzuführen.
«Zu Beginn der Kindergruppenarbeit im EVZ stellten sich mir angesichts meiner langjährigen Erfahrungen mit traumatisierten Kindern folgende Fragen: Wie kann man angesichts der Verständigungsprobleme, des ständigen Wechsels, der ethnischen Vielfalt, des grossen Altersspektrums, der beengten Raumverhältnisse eingepasst in die Abläufe des EVZ für die Kinder einen sicheren Rahmen schaffen, in dem sie zu sich kommen, was immer sie bewegt ausdrücken, Eigenes gestalten können?», erklärt Elisabeth Hofmann. «Wie können wir die Familien einbeziehen? Und wie ist es wenigstens in Ansätzen möglich, diesen Kindern das zu geben, was sie neben Schutz und Sicherheit am meisten brauchen: das Gefühl, willkommen, wahrgenommen und geachtet zu sein und zu erleben, dass sie etwas erschaffen und gestalten können?»
Mit der Ergotherapeutin Martha Götz arbeitete sie schon in einer kinderpsychiatrischen Tagesklinik zusammen und entwickelte eine Vorgehensweise, die sich bis heute bewährt hat. Sie benutzen Ton, weil es ein wunderbares Material für Ausdruck und Gestaltung ist, das allen Altersstufen gerecht wird.
Immer gleicher Ablauf
Der Gruppenraum ist schon vorbereitet, wenn die Kinder kommen. Für jedes Kind stellen die Frauen die gleichen Materialien bereit: Ton, eine Unterlage, kleine Holzrollen und Zahnstocher als Bearbeitungsmittel. «Wenn wir die Kinder bei ihren Eltern abholen, bekommen wir einen ersten Eindruck, erfahren, wie sie heissen, wie alt sie sind, woher sie kommen», erklärt Hofmann.
Es ist erstaunlich, wie rasch die 22 Kinder zwischen vier und 14 Jahren bei den Tönen einer Klangschale zur Ruhe kommen. Danach warten sie gespannt darauf, dass sie einzeln, einer nach dem anderen, beim Namen genannt und von der ganzen Gruppe im Chor begrüsst werden. Dann vertiefen sich die Kinder in die Arbeit mit dem Ton. Die Gruppenleiterinnen geben nichts vor, lassen geschehen, leisten allenfalls kleine Hilfestellungen, bestätigen anerkennend, was immer die Kinder produzieren. Sie sprechen nicht. Wenn überhaupt reden die Kinder leise miteinander, manchmal ertönt Lachen; oft ist es aber ganz still, sind die Kinder ganz bei sich und ihrer Arbeit, summen vielleicht leise vor sich hin.
Die Kinder signalisieren, wenn sie fertig sind. Dann fotografieren die Leiterinnen ihre Werke, die als Bildkopie würdigend erhalten bleiben und an der Wand aufgehängt werden, bevor der Ton neu aufbereitet wird. Zuerst aber werden die Tongestaltungen auf der Fensterbank ausgestellt – eine kleine Galerie, die die Kinder den Eltern zeigen können. Sie tun dies mit grossem Stolz.
Die Werke drücken Sehnsucht und Wünsche aus
Zu den Themen der Tongestaltungen befragt, sagt Elisabeth Hofmann: «Oft können wir nur ahnen, was die Kinder bewegt.» Selten tauchen traumatische Erfahrungen auf. Doch darunter können sich ganz handgreifliche Darstellungen von Gräueltaten befinden: «Ein zwölfjähriges syrisches Mädchen formte einen Panzer und viele Erschossene, ein sechzehnjähriges Mädchen aus Afghanistan ein Schiff, das von einem Polizeiboot zurückgewiesen wird», erzählt Hofmann. Viel öfter werde sichtbar, was den Kindern zutiefst wichtig ist: ihre Familie, ihre Identität, der eigene Name, der Stolz auf ihre Herkunft und ihre Wünsche nach einem sicheren Haus. «Danach, hier in der Schweiz bleiben, spielen, lernen, ein normales Kinder- und Jugendlichenleben führen zu dürfen mit Spielplätzen, Fussballfeldern, Geburtstagstorten und Liebe», sagt die Psychologin.
Lernen ist beste Traumatherapie
Elisabeth Hofmann ist überzeugt: «Wenn wir diesen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, sich entwickeln und lernen zu dürfen, helfen wir ihnen am besten, ihre Traumatisierungen zu überwinden. Und wir tragen auch dazu bei, dass sie, wenn sie in ihre Länder zurückkehren, nicht Teil einer verlorenen Generation sind, sondern eine Hoffnung für ihr Land. Und falls einige von ihnen bei uns bleiben werden, können wir motivierte und wertvolle Mitglieder für unsere Gesellschaft gewinnen.»