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«Diejenigen, die nicht lesen, bestrafen sich unentwegt selbst»

Konstanz – Uwe Timm, einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, sprach mit uns über seine Arbeit, das Lesen und die Liebe.

Der Schriftsteller Uwe Timm. (Bild: vf)

Der Schriftsteller Uwe Timm. (Bild: vf)

Uwe Timm hat am Samstag, 11. Juni, im Rahmen einer Veranstaltung für Intertextualität und Schreiben im Alltag vom «Institut für professionelles Schreiben» in Zusammenarbeit mit dem «Schweizer Forum für wissenschaftliches Schreiben» eine Lesung abgehalten. Im anschliessenden Gespräch mit seinem Lektor und Biographen Prof. Dr. Martin Hielscher und IPS-Direktor Prof. Dr. Volker Friedrich ging es um den Alltag von Autoren. Im Vorfeld sprach Uwe Timm mit uns über seine Arbeit, das Lesen und die Liebe.

Kreuzlinger Zeitung: Welchen Stellenwert hat das Schreiben für Sie?
Uwe Timm: Das ist ganz zentral. Es ist die Form, über mich nachzudenken, seitdem ich zwölf Jahre alt bin. Seitdem schreibe ich und es ist inzwischen zu einer Form geworden, die mich an mich selbst annähert, was ich zunächst nicht gedacht habe.

Wann und wo schreiben Sie? Haben Sie einen Arbeitsalltag mit Bürozeiten oder schreiben Sie nachts oder im Café?
Ich bin preussisch erzogen worden und arbeite dementsprechend sehr diszipliniert. Ich bin ein fleissiger Arbeiter und arbeite morgens, nachmittags und abends in der Regel bis elf oder halb zwölf Uhr. Das bedeutet, dass ich nicht nur schreibe, sondern auch lese und viel recherchiere. Das bringt meine Literatur mit sich. Es ist eine Literatur, die fiktional ist, aber oft auf Fakten zurückgreift und auf diesen basiert. Das erfordert Recherchen, die recht umfangreich sind.

In welchem Umfang recherchieren Sie für Ihre Werke?
Oh, das ist schwer zu sagen. Also für einen Roman wie «Morenga», der ist vor vierzig Jahren erschienen und wird jetzt gerade ins Französische übersetzt, da habe ich bestimmt zwei Jahre recherchiert und zwei Jahre geschrieben. Insgesamt habe ich vier Jahre an diesem Roman gearbeitet. Er behandelt einen Teil der deutschen Kolonialgeschichte, nämlich den Aufstand in Namibia, dem früheren Westafrika, und den damaligen Völkermord an den Hereros, der von den deutschen Truppen begangen wurde.

Begleitet das Schreiben Ihre Themen im Leben? Sie haben ja von «Rennschwein Rudi Rüssel» bis «Vogelweide» ein weites Spektrum bearbeitet. Schreiben Sie autobiographisch oder trennen Sie sich und Ihre Literatur?
Ja, «Vogelweide» zum Beispiel ist ein Roman, der nicht so viele Recherchen erfordert hat. Das sind Beobachtungen über die Jahre und Jahrzehnte, wie sich die Form der Beziehung unter den Geschlechtern verändert hat, also auch, wie sich Liebe über die Zeit verändert hat. Die Form der Annäherung, wie man miteinander umgeht, und so weiter. Das ist ein Roman, der über das Begehren geht: Zwei Paare lernen sich kennen und verlieben sich in den jeweils anderen. Die beiden Paare fliegen auseinander, also das Prinzip von «Die Wahlverwandtschaften» [Roman von Wolfgang von Goethe, 1809, Anm. d. Red.]. Das ist jetzt nicht autobiographisch, dass mir das so passiert wäre, aber natürlich gesättigt durch Beobachtungen, durch Erfahrungen und Eigenbeobachtung. Und dann gibt es die Kinderbücher. Die wären nicht denkbar gewesen, wenn ich nicht Kinder bekommen hätte mit meiner Frau. Kinder hören gerne Geschichten, und so ist für jedes Kind ein Buch entstanden: «Rennschwein Rudi Rüssel», «Die Piratenamsel» und «Die Zugmaus». Und für meine Tochter aus einer früheren Beziehung nachträglich noch «Der Schatz auf Pagensand». Mehr werde ich nicht schreiben. Das sind Dinge, die ich in unmittelbarer Beziehung zu den Kindern sehe, mit deren Wünschen, Fragen, Ängsten und Vorstellungen. Ich habe die Geschichten immer zuerst erzählt und dann geschrieben. Die Kinder durften dabei mitbestimmen, zum Beispiel die Namen. Wenn ich jemanden «Klaus» nannte und es in der Klasse einen Klaus gab, der besonders widerlich war, gab es einen wahnsinnigen Aufstand.

Was für ein schönes Geschenk für Ihre Kinder!
Ja, das denke ich auch. Das hat mir Spass gemacht, das war überhaupt keine Pflicht. Das war ein sehr lockeres, leichtes Schreiben.

Empfinden Sie Schreiben ansonsten als Pflicht? Sie leben ja vom Schreiben, wird das dann zu Arbeit?
Ja, das ist auch ein Druck. Es ist nicht so, dass ich die freie Wahl hätte, sondern ich muss schreiben. Das muss ich wirklich sagen. Es ist so eine Eigenverpflichtung, die kommt nicht von aussen. Ich könnte es auch bleiben lassen. Es entsteht manchmal Druck, weil man nicht weiterkommt und dann wie auf Erbsen herumläuft, weil man überlegt, wie man etwas verändern muss oder wie man bestimmte Gelenkstellen ästhetisch löst. Es ist nicht immer die Lust am Schreiben, sondern sehr oft auch der Frust, der streckenweise mit eingebaut ist. Und das ist eben knallharte Arbeit. Und ich gehörte zu denjenigen, die sehr viel umschreiben. Mein Lektor kann das bestätigen. Ich habe sechs oder sieben Fassungen. Ich sitze sehr lange daran und schreibe um und um und um, bis der Text gut ist. Bis ich das Empfinden habe, dass er gut ist.

Sie haben nun gesagt, dass Sie sich manchmal unfrei fühlen. Müssen Sie frei sein, um zu schreiben oder machen Sie sich durch das Schreiben frei?
Eine sehr gute Frage! Es ist beides. Mehr kann man dazu nicht sagen. So ist es.

Ihre Bücher werden unter anderem als Schullektüre gelesen. Bei mir war es «Die Entdeckung der Currywurst». Denken Sie, dass Sie die junge Generation verändern? Haben Sie Ratschläge für die Jugend?
Ich habe keine Ratschläge. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass die junge Generation liest. Und zwar nicht aus dem Grund, dass meine Honorare garantiert sind, sondern weil Lesen etwas ganz Wunderbares ist. Für mich war es ein Befreiungsakt. Es war etwas ganz Entscheidendes, dass ich mich hinsetzen konnte mit einem Buch in der Hand und dass meine Eltern nicht sagten «Was du da tust, ist unnütz», sondern mich in Ruhe lesen liessen. Ich war also in meiner Welt, mit einem Buch und unberührbar. Ich konnte mich selbst in der Literatur suchen und finden. Und so ist es auch beim Schreiben. Diejenigen, die nicht lesen, bestrafen sich unentwegt selbst. Ohne es zu wissen. Trauriges Schicksal.

Haben Sie Ratschläge für junge Literaten, die ihre Werke vielleicht noch nicht an die Öffentlichkeit gebracht haben?
Das ist sehr unterschiedlich, inzwischen hat sich das sehr geändert. Als ich angefangen habe zu Schreiben war das sehr kompliziert. Jetzt gibt es Agenturen, Preise, Schulen und Universitäten, die das Schreiben lehren. Es hat sich dermassen aufgefächert, was es vorher überhaupt nicht gab. Da musste jeder selbst seinen Weg finden und der war sehr steinig und nicht leicht. Man merkt es an der Zahl der jungen Autoren, die jetzt publizieren, das ist enorm. Es hat nie einen Zeitpunkt gegeben, in der so viele literarische Werke auf den Markt kamen, wie jetzt. Ob die dann bleiben, ob das gut ist, weiss ich nicht. Ich finde ja, man muss hauptsächlich bei sich bleiben und genau diese Suche auch aufnehmen, was für einen selbst, also für denjenigen, der schreibt, wichtig ist. Wenn man denkt, dass es eine Form ist, wie keine andere, über sich selbst Erfahrungen zu machen, dann hat man à la longue auch einen Verlag oder Leser, die diese Interessen, die man an sich selbst hat, auch suchen. Das ist eine Wechselwirkung. Je radikaler die Introspektion des Schreibers ist, je radikaler jemand seinen Ängsten und Wünschen nachgeht, desto interessanter wird es auch für den Leser.

Mögen Sie Ihren Erfolg als Schriftsteller?
Na, das wäre ja pervers, wenn nicht. Wenn man schreibt, möchte man ja auch gelesen werden. Dass das jetzt auch noch so ist, dass ich davon leben kann, das finde ich okay. Ich habe nicht damit gerechnet, das ist nicht das, was ich erwartet habe, aber es ist gut so. Es macht mich auch frei. Ich bin nicht auf irgendwelche Sachen angewiesen, ich muss keine Themen machen, muss keine andere Arbeit machen, sondern kann genau das machen, was ich will.

Was bedeutet die Liebe für Sie?
Viel. Alles. Das ist ganz entscheidend. Ich kann nur empfehlen «Vogelweide» und vor allen Dingen «Rot» zu lesen. Diese beiden Romane geben Antwort darauf, was Liebe ist. Wie kompliziert und befreiend das sein kann. Ich würde es mit dem Begehren umschreiben. Dieses Moment des Begehrens ist etwas, das viel weiter reicht als nur in die Emotionalität hinein, dass man jemandem nahe ist und womöglich nach einer gewissen Zeit nicht mehr mit ihm zusammen sein möchte. Das Begehren trägt so ein utopisches Moment in sich: Im anderen etwas zu finden, das einen grösser macht, den anderen gross sehen und sich selbst grösser machen, so wie der andere auch durch die eigene Person wieder grösser wird. Das ist so eine gegenseitige Form, die einen Zustand schafft, die derjenige, der allein ist, nicht erreichen kann.

Sie vertreten also eine platonische Sichtweise der Liebe, die sich am eros-Begriff orientiert?
Ja genau! Platon hat ja diese Walzentheorie im Symposium. Ursprünglich waren die Menschen rund, dann wurden sie geteilt und von Stund‘ an sucht man die andere Hälfte seiner Walze als Ergänzung. Absolut, das finde ich sehr gut!

Es gäbe ja auch andere Ansätze, wie beispielsweise von Aristoteles, der einen schlichteren Blick auf die Liebe wirft.
Ja, ich weiss. Ich habe ja auch Philosophie studiert und Platon hat mich tief beeinflusst. Ein wunderbarer Philosoph!

Der Anfang von allem …
Ja, absolut! Ich finde das toll. Bei Platon ist ja noch nicht das grosse System als Philosophie da, sondern es ist immer auch ein bildhaftes Denken, da ist viel von Poetik drin. Das ist das Wunderbare an Platon. Aristoteles, klar, die unglaubliche Kuppel an Systematik … Aber Platon ist mir da immer sehr nahe gewesen.

Sie schreiben viel über Hamburg und Berlin. Was bedeutet Heimat für Sie?
Man hat immer so ein Heimatgefühl, dort wo man aufgewachsen ist, wo man die Sprache kennt, wo man die ganzen Orte kennt. Aber jeder weiss, dass es sehr unterschiedlich ist. Es gibt Menschen, die viel hin und her ziehen, weil die Väter Diplomaten sind, aber auch die haben einen Moment von Heimat als Ursprung. Für mich ist es Sprache. Mich zieht nichts nach Hamburg, ich finde das immer sehr windig und fahre nur ganz selten hin. Nur wenn ich muss. Mein Grossvater war Kapitän und ich verstehe das alles, finde den Hafen wunderbar und auch die Schifffahrt. Ich hatte ein Segelboot und bin gesegelt, das gehört mit dazu. Aber irgendwie fängt es damit an, dass ich schon immer diesen Sehnsuchtsort Süden hatte. Schon ganz früh. Italien – ich war nie da, aber hatte diesen Sehnsuchtsort. Insofern ist Heimat ein merkwürdiges Gefühl, ich empfinde Heimat in Italien oder in München, wo ich lebe. Dort ist es sehr italienisch. Richtig heimatlich angerührt, werde ich nur, wenn ich hamburgisch höre. Dann kommt so ein Hall aus der Kindheit, weil ich den nicht im Kopf habe.

Ihre Werke sind zum Teil verfilmt worden. Oft ist das Verhältnis von Literatur und Film ja sehr schwierig. Sind Sie zufrieden mit der Verfilmung Ihrer Werke?
Nein, eigentlich nicht. Meine Romane sind sehr früh verfilmt worden und das hat Geld gebracht. Das hat mich freigestellt. Ich musste dann nicht mehr als Herausgeber arbeiten, sondern konnte nur schreiben. Aber die Filme fallen in aller Regel und zwar notwendiger Weise hinter den Büchern zurück.

Ich finde «Rennschwein Rudi Rüssel» hervorragend verfilmt. Ansonsten bedaure ich immer, dass die eigenen Vorstellungen im Film verschwinden.
Ja klar. Auch die ganzen Reflexionen, die fallen ja weg.

Was halten Sie von Peter Stamm, der am Dienstag, 13. Juni, in Kreuzlingen lesen wird?
Das ist ein Kollege, den ich sehr schätze, gerade weil er sich auch mit einer grossen Sensibilität und Genauigkeit in der Sprache, mit dem Begehren auseinander setzt und zugleich auch mit dem Problem der Sinngebung. Nicht zufällig läuft einer weg. Es sind immer Existenzen, die problematisch sind, die über sich reflektieren. Das gefällt mir!

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