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Lernen lernen

Kreuzlingen - Das Kollegium der pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen diskutiert neue Konzepte zum selbstorganisierten Lernen (SOL). Bei dieser Unterrichtsform sollen Schüler zunehmend eigenverantwortlich festlegen, was, wann, wo, wie und mit wem sie lernen. (Inka Grabowsky)

Professor Dr. Walter Herzog erläutert die Möglichkeiten und Grenzen des selbstbestimmten Lernens. (Bilder Grabowsky)

Zwei Tage nahmen sich die Lehrerinnen und Lehrer im Rahmen einer Weiterbildung in der Kartause Ittingen Zeit, um das aktuelle Schlagwort mit Inhalten zu füllen. «Natürlich wollen wir den Schülerinnen und Schülern bis zur Maturität Verantwortung für ihr Lernen übertragen», sagt Rektor Lorenz Zubler. «Dafür müssen wir gegebenenfalls unser didaktisches Repertoire erweitern. Vor allem aber müssen wir uns darüber klarwerden, wo selbstorganisiertes Lernen sinnvoll ist und wo nicht.» Unter anderen erläuterte Walter Herzog, emeritierter Professor für pädagogische Psychologie an der Universität Bern, dem Kollegium die Möglichkeiten und die Grenzen der Methode. Die 75 Lehrer und Lehrerinnen dürften sich aus der Aula des Ittinger Gästehauses während seines Vortrags in die Hörsäle zur Zeit ihres Studiums zurückversetzt gefühlt haben. «Wir reden hier eigentlich über eine Selbstverständlichkeit», sagte er. «Noch nie hat ein Lehrer einem Schüler das Lernen abgenommen. Doch beim SOL-Konzept geht es darum, durch die Autonomie mit nachhaltigerem Erfolg zu lernen.» Das fordere den Lernenden einiges ab. Sie müssten zunächst selbst das Bedürfnis haben zu lernen, ein Ziel festlegen, eine Strategie es zu erreichen, schliesslich tatsächlich lernen, sich selbst kontrollieren und dann bewerten. «Gymnasiasten haben nicht die Kompetenzen, all diese Entscheidungen zu treffen», meint er weiter. «Ausserdem stehen der Lehrplan und die gesellschaftlich geforderte Benotung dem entgegen. Auf absehbaren Zeit sind Lehrer und Schulen also nicht überflüssig.»

Deutliche Effekte
Punktuell kann man das Konzept aber durchaus einsetzen. Ein SOL-Projekt im Kanton Bern hat das bewiesen. Professor Herzog begleitete es wissenschaftlich mit seinem Team. Es befragte 1400 Schüler, die zwei Jahre lang Unterricht nach SOL-Methoden bekommen hatten. «Es gab einen deutlichen Effekt: Je autonomer die Jugendlichen lernen durften, desto motivierter waren sie. Ob auch ihre Leistungen stiegen, können wir nur vermuten.» Den Wissenschaftlern fiel allerdings auf, dass Schüler, die sich als fachlich gut einschätzten, SOL besser fanden als jene, die sich für weniger kompetent hielten. «Wenn man SOL einführt, muss man gut auf die schwächeren Schüler achten», so das Fazit des Professors.

Theorie und Praxis
Auf den Unterricht von Mathematiklehrer Micky Altdorf wird die Fortbildung keine unmittelbare Auswirkung haben. «Ich sehe zu deutlich, dass vor allem gute Schüler von den Methoden des selbstorganisierten Lernens profitieren. Ausserdem müssen wir gemäss Lehrplan bestimmte Themen in einer bestimmten Zeit abarbeiten. Autonomes Lernen braucht mehr Zeit.» Auch bei Walo Abegglen in Geschichte wird sich spontan nicht viel verändern. «Es gibt schon jetzt Elemente des selbstorganisierten Lernens. Aber SOL in Reinkultur ist einfach nicht umzusetzen. Wenn heute Schüler beispielsweise zum Thema Mittelalter recherchieren sollen, stellen wir Quellen bereit. Wenn sie alles alleine zusammensuchen sollten, wären die meisten überfordert und landeten am Ende doch nur bei Wikipedia.»  Prorektor Bernhard Weber geht davon aus, dass die Diskussion Einfluss auf seinen Unterricht haben wird. «Entscheidend ist für mich, dass wir uns untereinander absprechen und ein gemeinsames Konzept für den Einsatz der Methoden entwickeln. Seit fast hundert Jahren hat man das Ideal des selbstorganisierten Lernens, konnte es aber nie realisieren. Heute aber, mit den digitalen Medien, haben wir bessere Möglichkeiten. Wir können jederzeit über das Netz kommunizieren, Informationen einfacher für den Unterricht aufarbeiten, und es gibt virtuelle Lernplattformen, die wir an der PMS mit der Kunst- und Sportklasse auch schon nutzen.» Schüler mit besonderen sportlichen, musikalischen oder gestalterischen Talenten sind an der PMS von Teilen des Präsenz-Unterrichts befreit, um zu trainieren, zu musizieren oder den Vorkurs für Gestaltung zu besuchen. Sie holen versäumte Lektionen selbständig nach. «Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht», sagt Bernhard Weber.

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