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Als Stadtammann gestartet – als Stadtpräsident gescheitert

Kommentar – Zum Rücktritt von Stadtpräsident Andreas Netzle gibt es hier einen Kommentar von unserem Verlagsleiter Paul Paproth.

Paul Paproth, Verlagsleiter der Kreuzlinger Zeitung. (Bild: zvg)

Vor zehn Jahren, am 1. August, hielt Andreas Netzle bei seiner Antrittsrede ein flammendes Plädoyer für einen Wirtschaftsraum, der grösser sein könnte als der von Zürich. Kreuzlingen, über die deutsche Grenze hinweg, sah er wirtschaftlich und kulturell eng verbunden mit Konstanz, Singen, Radolfzell und mehr. Dafür erhielt er stehenden, lang anhaltenden Applaus. Der neue Stadtammann war der Hoffnungsträger für viele Kreuzlinger. Übrig von der damaligen Euphorie blieb ein offensichtlich frustrierter Stadtpräsident, der sein Amt vorzeitig in Windeseile aufgibt und eine enttäuschte Bevölkerung und überraschte Lokalpolitiker zurücklässt. Doch wie kam‘s?

Einzig blieb das Stadthaus
Schon das erste grosse Projekt, klar Chefsache, ging voll daneben. Der Boulevard, er sollte «der Schönste im ganzen Thurgau» werden, ist bis heute, sechs Jahre nach seiner Eröffnung, eine Problemstrasse. Dann folgten mehrere schlecht vorbereitete Vorlagen zum Grossvorhaben «Xentrum», die vom Stimmbürger verworfen wurden. Zum Schluss blieb der Neubau eines Stadthauses mit Tiefgarage und Festwiese übrig, das mit einem Zufallsmehr von fünf Stimmen angenommen wurde. Kein Grund zum Jubeln, wenn fast 50 Prozent anderer Meinung sind.

Die Liste negativer Beurteilungen über den scheidenden Stadtpräsidenten reichte schon seit geraumer Zeit von schlechter Kommunikationsfähigkeit über fehlende Volksnähe bis zu mangelnder Empathie. Viele, die mit Netzle zu tun hatten, konnten wahrscheinlich einige dieser Facetten durch eigenes Erleben erkennen. Dennoch: Leicht hatte es der Parteilose nicht. Ohne ei-gene Hausmacht stand er von allen Seiten unter Dauerbeobachtung. Da sind Fehlleistungen vorprogrammiert und schonungslos aufgezeigt. Hinzu kommt: Er ist nicht der Einzige, der all die bemängelten Projekte auf den Weg gebracht hat.

In einer Medienmitteilung äussern sich die Fraktionspräsidenten wie folgt: «Verantwortungsvolle Politik zu betreiben heisst aber, den politisch Involvierten sowie der Öffentlichkeit – zum Wohle der Stadt – genügend Zeit zu geben, um einen geeigneten Nachfolger oder eine geeignete Nachfolgerin zu suchen, aufzubauen und in einem sauberen politischen Prozess ins Amt wählen zu lassen. Hier vermissen wir das politische Verantwortungsgefühl des Stadtpräsidenten, das die Interessen der Stadt mindestens auf die gleiche Stufe mit seinen persönlichen Interessen stellen würde». Das ist theoretisch richtig. Doch Netzle stand schon seit längerer Zeit offenbar so unter Druck, dass er jetzt selbst die Reissleine zog. Oft bleibt bei einer sich bietenden beruflichen Chance keine Möglichkeit, lange Übergangszeiten auszuhandeln. Eine Institution wie die Stadt als Arbeitgeberin ist in solchen Fällen immer stabiler als ein Individuum. Auch wenn einzelne Projekte sich etwas verzögern werden.

Chancen sich zu profilieren
Mit Dorena Raggenbass hat die Kommune eine erfahrene, kompetente, verlässliche Stellvertreterin. Alle Parteien haben gute Leute in ihren Reihen. Denen bietet sich nun überraschend vorzeitig eine Chance, sich neu zu profilieren und neu aufzustellen.
Paul Paproth, Verlag Kreuzlinger Zeitung AG

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