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«Der Blick wird eng, die Sicht dunkel»

Münsterlingen – Bei der Expertenmeinung zum Thema Suizid in der Psychiatrie Münsterlingen gab es informative, bedrückende aber auch erhellende Momente. Das Fazit: Egal ob vor oder nach einer Selbsttötung, dass Wichtigste ist es, das Gespräch zu suchen.

Christiane Rösch, Therapeutische Leiterin und David Oberthaler, Suizidalitätsbeauftragter, im Gespräch über Selbsttötung. (Bild: Gaby Mohr)

«Suizid ist immer noch ein Tabuthema», stellte Christiane Rösch, Therapeutische Leiterin in der Psychiatrie Münsterlingen, fest. Der Zahl der Gästen nach jedoch eines, dass eine Vielzahl an Menschen beschäftigt. Zusammen mit David Oberthaler, welcher als Suizidalitätsbeauftragter der Psychiatrischen Dienste arbeitet, gingen die beiden dem verschwiegenen und doch allgegenwärtigen Phänomen auf den Grund.

«In der Klinik sprechen wir nicht von Selbstmord oder Freitod», erklärte Oberthaler. Ersteres impliziere, dass die Tat von langer Hand geplant sei, zweites heroisiere die Handlung. In der Psychiatrie gelte deshalb die Sprachregelung «Suizid» oder «Selbsttötung». Die Schweiz liege mit 17 Todesfällen auf 100’000 Einwohnern international im mittleren Bereich. Männer würden sich hierzulande drei Mal öfter umbringen als Frauen. Das Durchschnittsalter liegt dabei bei 55 bzw. 58 Jahren. Bei Frauen sei jedoch vor allem in der Pubertät ein erhöhtes Aufkommen an Suizidversuchen zu beobachten. «Dabei leiden nicht nur die Direktbetroffenen, sondern auch das Umfeld und die Therapeuten mit», wusste Oberthaler aus seiner Arbeit zu berichten. Bei jedem Suizid sind zehn bis 15 Angehörige betroffen. Diesen falle es nach dem Verlust eines Menschen nicht leicht, darüber zu sprechen. «Lange Zeit war Selbsttötung ein Straftatbestand oder Sünde», erklärte Rösch sich dieses Tabu. Auch die eigenen Gefühle, wie Wut, Scham, Selbstmitleid oder Erleichterung unterdrücke man. Teils sind die Hinterbliebenen auch von einer gesellschaftlichen Ausgrenzung bedroht.

Das Leben geht weiter
Gefühle, die auch bei Christian Meier (Name geändert) aufkamen. Er berichtete an dem Abend als Direktbetroffener von seinen Erfahrungen. Sein Bruder erfuhr vor einigen Monaten bei seinem zweiten Kind von einem unheilbaren Hirntumor. Nachdem er bereits sein erstes Kind an die Krankheit verloren hatte, nahm er sich nach der Diagnose selbst das Leben. «Bei mir wurde der Blick daraufhin eng und die Sicht dunkel», erinnert sich Meier. Nachdem er seinen Bruder samt dessen Kind beerdigen musste, fiel er in eine Abwärtsspirale. «Plötzlich schien die Selbsttötung auch für mich eine Lösung zu sein. Ich brauchte jemanden, der mich auffängt», so sein Fazit im Rückblick. Er nahm eine Auszeit, suchte Hilfe und fand sie bei den Psychiatrischen Diensten. Fünf Gespräche später ist er wieder in seinen Alltag zurückgekehrt.
«Das grosse Warum?», war der Titel der Veranstaltung und diese Frage schien auch im Publikum eine zentrale Rolle zu spielen. Doch Antworten nach dem Ableben eines geliebten Menschen seien, wenn überhaupt, nur schwer zu erhalten. Psychische Erkrankungen, Trennung oder Arbeitslosigkeit könnten Faktoren sein. Für Meier war es hilfreich, das Geschehene und die Entscheidung zu akzeptieren. Die wichtigste Erkenntnis für ihn dabei: «Das Leben geht weiter.»

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