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«Alles ist hier schiefgelaufen»

Ermatingen/Konstanz – Im Alter milde werden? Pustekuchen. Jochen Kelter zieht in seinem neuen Büchlein über unsere Region her, über konsumgeile Schweizer und deutsche Sparfüchse, über die Kinder des Börsenkapitalismus und sowieso diese «ganze Scheissepoche, die über uns hereingebrochen ist». Gegenbild dieser Hasstiraden auf die verbockte Gegenwart ist ein wunderbares, verwunschenes, aber leider vergangenes Konstanz mit schmuddeligen Ecken und eigenen Charakteren.

Der deutsch-schweizerische Schriftsteller Jochen Kelter, Jahrgang 1946, lebt in Ermatingen und Paris. In Konstanz sitzt er gerne am Döbeleplatz. (Bild: Stefan Böker)

Als Jochen Kelter in den Sechziger Jahren als Student sein Fremdenzimmer in der «Traube» bezog, kam er in einem Ort aus grauer Vorzeit an. Kneipen hiessen «Deutsches Heer» und die Einheimischen «bellten eine kurzatmige Sprache mit dumpfem Ausrufezeichen am Schluss: odder!» Wenn da ein Fremder die Gasthaustüre öffnete, war dem Autor und seinen Freunden, knorrigen Lebenskünstlern und intellektuellen Studenten im Exil, sofort klar: Wenn wir den nicht kennen, muss es ein «Arschloch» sein. Wahrscheinlich sogar: «ein Riesenarschloch».

Asoziale und Langhaarige
Die Szene war überschaubar und pittoresk, die Feindbilder klar und auch zu bewältigen. Das vom Rest der Welt abgeschnittene und vom Ausland eingezwängte Konstanz hatte mit seinen Charakteren und dreckigen Ecken viel echtes Leben zu bieten für die von den Hiesigen als «Asoziale, Langhaarige, Fremde und Schwaben» verunglimpfte Clique, von der Kelter weniger melancholisch als knapp und pointiert erzählt.

Es waren die 68er. Den Jungen, die auf die Strasse gingen, schlossen sich liberale Akademiker bei der Demo an, die sich sogar über die Schweizer Grenze bewegte, wo dann neue Fahnen ausgerollt wurden. Häuser besetzten sie, während Professoren lehrten, die «Major der Wehrmacht» gewesen waren oder Schlimmeres, wie sich postum herausstellen sollte.

In den Siebziger Jahren offenbarte Konstanz seinen ganzen schnoddrigen Charme. Mit wehmütigem Stolz beschreibt Kelter die alten Zeiten und wo sie sich herumtrieben. In den dunklen Gassen der Niederburg lief illegales Glücksspiel und der Strassenstrich auf der Laube war fast so eine Attraktion für Schweizer Männer wie es deutsche Drogeriemärkte heute für ihre Frauen sind.

Es war nicht Paris, aber es war okay. «Die Randexistenzen und Lumpenproleten hatten zumindest nichts mit Bürgern und Bourgeoisie zu tun», schreibt Kelter. Krasse Geschichten gab’s auch: Ein angetrunkener Wutbürger erschoss auf offener Strasse einen 17-Jährigen. Zuvor hatte die NPD den Stadtpräsidenten aufgefordert, gegen das arbeitsscheue und asoziale Gesindel, gegen die Gammler, die sich nach Rockkonzerten im Stadtgarten trafen, vorzugehen.

Später wurde alles weicher, die Stadt zum Biotop, mit mehr Demokratie «jenseits der bürgerlichen Ordnung», als die Freaks im guten Leben ankamen und dieses gemäss ihrer Gesinnung politisch mitgestalteten. Manche machten Karriere als Berufsschullehrer, Dozenten, Stuttgarter Gemeinderäte oder grüne Politiker. Manche machten sich’s gemütlich, während andere die Altstadt für einen neuen Mittelstand aufmöbelten, für Lehrer, Anwälte, Ärzte, die «sichere Strassen, die Sanierung der hygienischen Verhältnisse, die Veredelung der Immobilien, Cafés und Restaurants statt Spelunken fürs Subproletariat» verlangten.

Kelter kämpfte dafür mit der Lokalzeitung, der «Alibiverpackung für eingelegten Werbemüll». Oder im Klassenkampf auf dem Fussballplatz, wenn seine alternative Mannschaft «Roter Hammer» gegen die Bürgerjungs vom Ruderclub kickte. Er diskutierte Literatur und spielte Billard.

Seine Konstanzer Jahre endeten mit dem Beschäftigungsverbot im öffentlichen Dienst. Was dazu führte, dass auch er seinen «Preis» nahm und in die Schweiz übersiedelte, um Lehrer zu werden. Wo er sowieso schon wohnte, in «einer der reaktionärsten Demokratien Europas», dem «Gefängnis», dessen Gefangene sich selbst bewachen. Weitere seiner Stationen: Zürich und New York. Nicht so wichtig.

Private Katastrophe
Aus der Bahn wirft ihn jedoch eine private Katastrophe, von der er mit grösstmöglicher Distanz und unter Zuhilfenahme von Zitaten des Schriftstellers Julian Barnes erzählt. Barnes hatte den plötzlichen Tod seiner geliebten Frau literarisch verarbeitet. Kelter jedenfalls zog die Tragödie den Boden unter den Füssen weg und es dauerte Jahre, bis sein Leben wieder heilte. «Ich hatte eine solche Erschütterung meines eigenen Selbst seit meinen Kindertagen nie erlebt, nur ihre, wie ich begriff, Vor- und Beiformen»; so die berührendste Stelle des Essays.

So kommt er schliesslich zurück in eine total veränderte Stadt an den See, über deren hirnlos-geschäftigen Zustand er höchstens noch spotten mag, verbunden mit resignierten Gedanken über die eigenen verpassten Möglichkeiten und eine Welt, die aus dem Ruder gelaufen ist. Und er kam, um sich den Hass von der Seele zu schreiben.

Vagbundenleben passé
Doch weder die «Hausfrauen» in ihren SUVs noch die Architekten des allgegenwärtigen «die Aussicht zustellenden, jegliches Harmoniebedürfnis von Auge und Seele beleidigenden» Schrotts und schon gar nicht die «Gauner aus Banken und Grosskonzernen» werden sich einen Deut darum scheren.

Der aber, wenn er schreibt und schimpft und vom alten Konstanz erzählt, dem Leser eine Mordsfreude bereitet, bis hin zum laut herauslachenden «Ha!».

Denn unsere Nachbarstadt war nicht immer das blitzblanke Rentner- und Shoppingparadies, das die einen hier so gerne sein würden, und das die anderen einer eingebildeten Anziehungskraft wegen vergessen lässt, wo sie fest hocken: im immer glattgebügelteren Kaff.

«Jetzt mache ich einen Satz» –
Ein fast aussichtsloser Versuch über die gelöschte Vergangenheit.
Kleine Oberrheinische Bibliothek. 48 Seiten.
ISBN 978-3-7448-5456-6

Jochen Kelter ist am Dienstag, 24. Oktober, 20 Uhr, in Konstanz im Foyer der Spiegelhalle zu hören. Dabei wird der Autor auch aus seinem neuen Gedichtband «Wie eine Feder übern Himmel» lesen.

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