«Kinder spiegeln die Unsicherheit»
Kreuzlingen – Die Corona-Pandemie hat viele heimische Strukturen und Muster in sich zusammenfallen lassen. Kleinkinderzieherin Irma Buscholl beobachtet seit längerem, dass dies zu Spannungen in Familien führt und bietet nun Gegensteuer.

«Durch Corona wurden feste Strukturen aufgebrochen. Das spürt man auch in den Familien», sagt Irma Buscholl. (Bild: Emil Keller)
Unsicherheit, Unzufriedenheit und Unruhe: Was Irma Buscholl seit einigen Jahren vermehrt in Familien beobachtet, hat sich nun in der Corona-Pandemie zusehends verschärft. Eltern sind überfordert, den Alltag zusammen mit ihrem Baby oder Kleinkind zu gestalten, was zu Spannungen in der Familie führt. Seit 17 Jahren führt Irma Buscholl die Kindertagesstätte Wurzelkinderhof über den Tägerwiler Feldern und immer öfter suchen Eltern mittlerweile das Gespräch mit der sozialpädagogischen Beraterin. Obwohl sie sieht, dass es den Eltern guttut über ihre Herausforderungen und Unsicherheiten zu sprechen, fehlt ihr meist jedoch die Zeit im hektischen Kita-Alltag, zwischen Tür und Angel die aktuellen Schwierigkeiten im Familienalltag genügend zu würdigen.
Klare Strukturen schaffen
Solche heimischen Herausforderungen haben während der akteullen Corona-Pandemie weiter zugenommen. Das hat sie schlussendlich dazu ermutigt, eine Idee, welche sie schon länger mit sich herumträgt, nun in die Realität umzusetzen. Ab März bietet sie im Schloss Brunegg Beratungs- und Erziehungsgespräche für Eltern an. «Ein Kind ist ein Spiegel seines Elternteils. Wenn ein Kind gerade eine schwierige Phase durchmacht, steht bei den Eltern meistens ebenfalls etwas an», hat Buscholl über die Jahre beobachtet. Das können kleinere Ungereimtheiten im Tagesablauf sein oder grössere, unbehandelte Themen wie die Trennung eines Partners oder der Verlust einer geliebten Person. Der Austausch, um solche Themen zu besprechen, fehlt in Zeiten von Home-Office und räumlicher Distanzierung oft. Familien verbringen ihre Zeit tagelang zusammen in den eigenen vier Wänden. Da ist es schwierig, selbst zu erkennen was nicht rund läuft.
Das Wichtigste sei es dabei, Strukturen im Alltag zu schaffen. Es ist für Buscholl nicht verwunderlich, dass sich nach den einschneidenden Veränderungen durch den Lockdown einst eingespielte Muster nicht mehr funktionieren. Hinzu kommt die Angst vor dem Virus generell. Diese Verunsicherung spürt auch der Nachwuchs. «Ein Kind ist wie ein Megafon, das wiedergibt, was derzeit bei den Eltern ansteht», sagt die Geschäftsführerin. Das wichtigste für den Nachwuchs seien dabei klare Strukturen zu schaffen: «Das gibt dem Kind Sicherheit, was zu Vertrauen führt. Und Vertrauen wiederum führt zu Harmonie und Liebe», zeigt die jahrelange Erfahrung von Buscholl. Um zu erkennen, wo es derzeit an solch festen Mustern hapert, bietet Buscholl auch Hausbesuche an. Als eine Art «Supernanny» kann sie so herausfinden, wo es im täglichen Ablauf hakt und wo neue oder angepasste Strukturen nötig sind.
An die Hand nehmen
Dass es zu diesem Thema unzählige Ratgeber und Antworten im Internet gibt, hilft schlussendlich nur wenig. «Meine Erfahrung zeigt, dass eine Mutter jemanden braucht, der sie an die Hand nimmt und ihr Zeit widmet», so die 52-Jährige. Dass die digitale Welt immer mehr in die Realität übergreift und seit Corona praktisch unverzichtbar geworden ist, sorge ebenfalls für Spannungen. «Eltern sind meist nicht mehr zu 100 Prozent da, wenn sie mit ihrem Kind interagieren», so Buscholl, «ein Auge hängt immer auf einem Bildschirm». Das Kind werde oft zu einem Nebenherprodukt und würde nicht mehr die volle Aufmerksamkeit der Eltern einnehmen.
Ein guter Ansatz, um wieder voll zu sich selbst zu finden, hat Buscholl in der Kunsttherapie gefunden. Die Arbeit mit Pinsel oder Ton unterstütze Elternteile dabei, sich wieder voll wahrzunehmen. «Erst wenn das eigene Körpergefühl wiederhergestellt ist, kann man wieder voll auf sein Kind eingehen», so Buscholl. Ihr neues Angebot im Schloss Brunegg hat die Erzieherin «IrrSinn» genannt. «Der Alltag mit einem Kind kann zwischendurch ganz schön Irre sein. Da ist es hilfreich, diesem einen Sinn geben zu können», schmunzelt sie.
Weitere Informationen unter www.irr-sinn.ch
Emil Keller