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Von Grenzgeschichten

David Bruder, Dorena Raggenbass und Andreas Osner. (Bild: Inka Grabowsky)

«Die Ausstellungen machen bewusst, wie schnell die Selbstverständlichkeit, mit der wir die Grenze überqueren, vorbei sein kann», sagt Stadträtin Dorena Raggenbass. 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wollten die Nachbarstädte schon vergangenes Jahr an die Abschottung zwischen 1939 und 1946 erinnern. Zu dem Zweck entstanden Texttafeln im Stil des alten «Lattenhaags». Sie stehen nun noch bis Ende August am Zollplatz und bieten Informationen über historische Ereignisse. Der Titel «An die Grenze kommen» spielt auf die Grenze des Erträglichen an, die für vielen Menschen in der Kriegszeit erreicht war und an die Sackgasse, in der sich Reisende im Krieg befanden.

Gleichzeitig formuliert der Titel aber auch einen Aufruf, an die Grenze zu kommen, um sich die Ausstellung anzusehen. Die Corona-Pandemie erzwang nicht nur eine Verschiebung der Eröffnung, sondern gab dem Thema auch unerwartete Aktualität. Der inzwischen berühmt-berüchtigte doppelte Grenzzaun auf Klein Venedig unterbrach die Verbindung zwischen den Städten erneut. «Er zeigte einmal mehr, dass Grenzen sowohl trennen als auch verbinden», sagt Konstanz‘ Kultur-Bürgermeister Andreas Osner. «Gerade wegen des Zauns haben sich mehr Menschen getroffen.» Er freut sich noch immer über die Kreativität, mit der Menschen die Hürde spielerisch oder künstlerisch überwanden.

Kriegsschicksale
«Der Corona-Zaun stand drei Monate», relativiert der Historiker David Bruder. «Im Krieg waren die Grenzübergänge sechs Jahre geschlossen.» Hier hätte sich viele schwere Schicksale entschieden. Juden wurden von Schweizern zurück über die Grenze in den sicheren Tod geschickt. «Wer diese Opfer waren und wie viele es davon gab, das lässt sich nicht mehr sagen. Dokumente dazu sind nicht auffindbar», erzählt David Bruder, der für die Ausstellung ein Vierteljahr deutsche und schweizerische Archive durchforstet hatte. Doch die gescheiterten Fluchten stünden nicht im Mittelpunkt. «Die Idee für die Ausstellung war, den Geschichten rund um die geschlossene Grenze ein Gesicht zu geben. Ich habe mich bemüht, jeweils ein Bild zu finden. Dazu gibt es Texte über Verblüffendes oder Überraschendes. Es regt zum Nachdenken an.» Auch der Historiker hat dazu gelernt: «10’000 bis 12’000 Freigelassene aus den Konzentrationslagern nutzen 1945 diesen Grenzübergang, auf dem Weg zurück in ihre Heimat – einige starben hier, weil sie zu geschwächt waren. Diese Dimensionen sind mir erst durch die Recherche bewusst geworden.» Immer wieder hätten es Menschen geschafft, trotz der geschlossenen Grenze Kontakte zu pflegen. Beeindruckt habe ihn die Geschichte des Bundesrates Musy, der mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, aber gerade durch seine Verbindungen 1200 Juden retten konnte, die in die Schweiz ausreisen durften.

Streitfall Otto Raggenbass
Ähnlich ambivalent ist das Bild anderer historischer Persönlichkeiten. In Sichtweite der Konstanzer Otto-Raggenbass-Strasse ist zu lesen, warum der frühere Kreuzlinger Bezirksstatthalter als «Retter von Konstanz» geehrt wurde. Er hatte Anteil an der friedlichen Übergabe der Nachbarstadt an die einmarschierenden Franzosen. Nur deshalb sei die Stadt vor der Zerstörung bewahrt worden, glaubten die Zeitgenossen. «Die Bedeutung der Akteure vor Ort erscheint heute gering», steht nun jedoch auf der Tafel. «Dagegen steht Raggenbass verstärkt in der Kritik wegen seiner restriktiven Haltung in der Flüchtlingsfrage.» Seine Tochter Dorena räumt ein, dass sie das durchaus trifft. «Ich bin ein Nachkriegskind, Jahrgang 1957. Mein Vater starb 1965. Ich konnte ihn nicht mehr fragen. Aber er hat sicher Fehler gemacht. Das ist eben die Geschichte.»

Fröhlicher stimmt der zweite Teil der Ausstellung, der am 4. Juni an der Kunstgrenze eröffnet wird. Die Städte hatten Konstanzer und Kreuzlinger um Geschichten von ihren Erlebnissen mit der Corona-Grenze gebeten. Sie kann man auf einem 15 Meter langen nachgestellten Stück des Doppelzauns lesen. Dorena Raggenbass plädiert für eine weiterhin gute Zusammenarbeit: «Nur zusammen sind wir der Kulturort, der am Bodensee nicht wegzudenken ist.»

Inka Grabowsky

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